„Wir werden dich brechen“

«Wenn ich morgens das Haus verlasse, bin ich mir nie sicher, ob ich zurückkommen werde», erzählt uns Schäfer Burhan. Einen kleinen Einblick in die Gefahr, der er und viele andere Palästinenser*innen tagtäglich ausgesetzt sind, bekommen mein Team, – bestehend aus vier Menschenrechtsbeobachter*innen (mich inklusive) – an diesem Freitag im September.

Wir begleiten Burhan und seine Schafe wie jede Woche auf die Weide. Burhans Hof steht in Makhul. Im C-Gebiet.

Seit dem Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen von 1995, dem sogenannten Oslo II, ist das Westjordanland unterteilt in A-, B- und C-Gebiete. A-Gebiete sind grössere Städte wie Ramallah oder Bethlehem. Sie stehen unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde. B-Gebiete sind vor allem ländliche palästinensische Gemeinden und Dörfer. Über sie haben die Palästinenser*innen die administrative Kontrolle und Israel die Sicherheitskontrolle. Die C-Gebiete sind dünner besiedelte Landstriche und palästinensische Dörfer. C-Gebiete stehen sowohl zivilrechtlich als auch in Sicherheitsbelangen unter israelischer Kontrolle.[1]

Laut dem Oslo-II-Abkommen hätten die C-Gebiete bis 1997 allmählich in die palästinensische Gerichtbarkeit überführt werden sollen. Das passierte nie.[2]

Grosse Teile der C-Gebiete sind fruchtbar und reich an natürlichen Ressourcen. Die Art, wie die Gebiete momentan verwaltet werden, hindert aber viele Palästinenser*innen daran, das Potenzial ihres Landes zu nutzen.[3]

C-Gebiete umfassen etwa 60 Prozent der Fläche der West Bank. 180’000 bis 300’000 Palästinenser*innen leben hier. Und mindestens 32’555 israelische Siedler*innen in 125 Siedlungen und mindestens 100 sogenannten Outposts, kleinere Aussenposten der israelischen Siedlungen.[4]

Die Siedlungen sind nach internationalem Recht illegal.[5] Die Israelische Regierung bestreitet dies.[6] Die sogenannten Outposts sind sogar nach israelischem Recht illegal. Dagegen unternommen wird aber kaum etwas.[7]

Am Morgen ist noch alles ruhig. Foto: Britta/PWS 2022

An diesem Freitag im September wandern wir mit Burhan und seinen Schafen auf den Hügeln hinter seinem Hof. Es ist sechs Uhr morgens, wir müssen früh los, wenn es noch etwas kühler ist, denn in diesen Monaten klettert das Thermometer im Jordantal schnell auf über 40 Grad.

Das Land liegt ruhig da, die Sonne taucht die Hügel in ein warmes Licht. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Vorfahren des ruhigen, grossgewachsenen Schäfers ihre Tiere früher auf diesem weiten Gebiet weiden liessen. Doch heute erblicken wir von blossem Auge drei Siedlungen und eine Militärbasis in unmittelbarer Nähe zu Burhans Zuhause.

Burhan mit seinen Schafen. Vor ihm eine Militärbasis, links auf dem Hügel eine israelische Siedlung. Foto: Britta/PWS 2022

Dass sein Gebiet jetzt so klein ist und dass er Menschen wie uns EAPPI-Menschenrechtsbeobachtende braucht, um mit den Schafen rauszugehen, bricht Burhan das Herz.

Wir sind seit einigen Stunden unterwegs. Burhan hat uns Gehstöcke geschnitzt damit wir im unebenen Gelände mehr Halt finden. Er selbst braucht das nicht, er rennt über das Geröll, als wäre es eine geteerte Strasse.

Vom Hügel aus sehen wir auf Burhans Hof herunter. Ein aus Wellblech und Tüchern zusammengebautes Haus und ein Stall. Anbauen darf er nicht.

Um in C-Gebieten bauen zu dürfen, brauchen Palästinenser*innen eine Genehmigung der israelischen Behörden. Ohne eine solche Bewilligung zählt ein Gebäude für die israelischen Behörden als illegal. Doch nur rund drei Prozent der Anträge werden bewilligt.[8] Wird ohne Genehmigung gebaut oder angebaut, werden die Häuser vom israelischen Militär demoliert.

Als wir auf Burhans bescheidenes Zuhause blicken, sehen wir etwas, das uns stutzig macht. Ein riesiges weisses Auto fährt die Schotterstrasse zum Hof hoch. Es ist eine Sackgasse, der Fahrer will also offensichtlich zu Burhan. „U.“ [9], sagt der Schäfer. U. ist ein Siedler aus der Umgebung, der für seine Brutalität gegen Palästinenser*innen bekannt ist.

Während wir noch auf das Auto schauen, das knapp vor Burhans Hof hält, hören wir hinter uns Stimmen. Drei israelische Teenager tauchen auf, einer ist am Telefon. Offenbar mit U., der von unten aus alles koordiniert. „Es sind die Europäer mit den Westen“, sagt der Teenager. Mehr verstehen wir nicht. Burhan sagt uns später, dass die Teenager ihn gefragt hätten, wo er die „europäischen Schlampen“ hergeholt habe.

Wir holen unsere Smartphones aus den Taschen. Das Geschehen zu filmen, ist unser einziger Schutz. Früher habe die Präsenz von internationalen Beobachtenden die Sieder*innen davon abgehalten, die Schäfer*innen zu schikanieren, erzählt unser Fahrer später. Das ist heute nicht mehr der Fall, wie sich gerade zeigt.

Viele Palästinenser*innen und auch israelische Aktivist*innen haben uns erzählt, dass die Situation in der West Bank während der Corona-Pandemie schlimmer wurde. Israel machte die Grenzen für fast zwei Jahre zu. Ohne internationale Beobachter*innen und NGOs seien die Siedler*innen noch gewalttätiger geworden.

Einer der Teenager verschwindet wieder den Hügel hoch. Die anderen beiden wenden sich jetzt meinen drei EAPPI-Kolleg*innen und mir zu. Einer der beiden schätzungsweise 15-Jährigen ist besonders aggressiv, schlägt meinem Kollegen das Smartphone aus der Hand, nähert sich uns auf wenige Zentimeter, schreit uns auf Hebräisch an.

Burhan macht sich auf den Weg den Berg runter, in Richtung seines Hauses. Wir folgen, die Teenager auf den Fersen. Der Aggressive sucht sich immer eine*n von uns aus, den oder die er zu Fall bringen will. Tritt uns, stösst uns mit aller Kraft. Wir sind froh um die Stöcke, die Burhan uns kurz zuvor gegeben hat. Sie helfen uns dabei, auf den Füssen zu bleiben.

Screenshot aus einem Video, das ein EAPPI-Menschenrechtsbeobachter machte, während die Jugendlichen uns den Berg herunterscheuchten. Foto: EAPPI 2022

Rund eine halbe Stunde dauert der Weg nach unten. Auf dem Hof angekommen, sehen wir, dass der erwachsene Siedler U. mit seinem Auto noch immer die Ausfahrt blockiert. Wir können nicht weg, das Auto unseres Fahrers steht neben Burhans Haus. Die Teenager gehen zu U.. Der trägt eine Waffe am Gurt. Sie alle grinsen. Der dritte Teenager kommt mit einem Quad Bike angefahren. Offenbar hatten sie das oben am Hügel parkiert gehabt.

Wir stehen mit Burhan auf der einen Seite. Die Siedler auf der anderen. Wir starren uns an. Ein zweiter weisser Geländewagen kommt die Schotterstrasse hochgefahren. Noch ein Siedler. M. ist, laut Erzählungen der Palästinenser*innen noch gewalttätiger als U. Auch sein Auto blockiert den Weg. Dann folgt ein kleines, graues Auto. Haben sie noch mehr Verstärkung gerufen?

Die einzige Ausfahrt ist versperrt von den weissen Autos der Siedler. Foto: Britta/PWS 2022

Doch es sind zwei israelische Aktivisten, die wir bereits kennen. Sie finden die Besatzung Palästinas durch Israel und das Verhalten gegenüber den Palästinenser*innen selbst schrecklich und setzen sich dagegen ein. Unter anderem machen sie, wie wir, Begleitschutz für Schäfer auf der Weide.

Die beiden stellen sich zu uns, fragen uns, was passiert ist. Dass die Siedler Ausländer*innen wie uns angreifen, davon hätten sie noch nie gehört, sagen sie. Sie sind schockiert ab dieser neuen Ebene der Gewalt.

Noch zwei Autos fahren die Strasse hoch. Aus dem Militärfahrzeug steigen drei junge israelische Soldatinnen. Die Siedler haben sie gerufen. Siedler und Soldatinnen begrüssen einander mit Lachen und Schulterklopfen.

Das zweite Auto ist ein israelisches Polizeifahrzeug, von Burhan gerufen. Die Polizist*innen müssen berufsbedingt Gewalt verhindern und deeskalieren. Während die Soldatinnen mit den Siedlern plaudern, sprechen die israelischen Aktivisten mit dem Polizeibeamten, erklären ihm, was vorgefallen ist.

Burhan und wir müssen unsere Pässe zeigen. Der Polizist interessiert sich nicht für unsere Videos, auf denen man sieht, wie der Teenager uns tritt und stösst, und wie die Jungs Burhan beleidigen. Wenn wir wollten, könnten wir auf einer Polizeistation Anzeige erstatten, meint der Beamte. Die Polizeistationen liegen alle in Siedlungen.

Der Polizist zieht ab. Mit den Siedlern hat er nur kurz geredet. Die Soldatinnen schreiben unsere Telefonnummern auf. Wir wären eigentlich nicht verpflichtet, ihnen die Telefonnummern zu geben. Doch das wissen wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Dann gehen auch sie, gefolgt von den Siedlern. Wir sind erleichtert. Doch das ist erst der Anfang.

Die Siedler haben es auf Burhan abgesehen. Fast einen Monat lang belästigen sie ihn Tag und Nacht. Fahren immer wieder mit Quad Bikes und Autos auf seinen Hof, leuchten mit Taschenlampen in sein Haus, wenn er schlafen will, manchmal bringen sie Hunde mit. Bis zu fünfmal in 24 Stunden tauchen sie auf, um ihn einzuschüchtern. „Wir werden dich brechen“, habe ihm der aggressive Teenager einmal gesagt, erzählt uns Burhan.

Die israelischen Aktivist*innen übernachten jede Nacht bei Burhan, um ihn zu schützen. Burhan macht trotzdem kein Auge zu, erzählt er uns. Seine Frau, die neun Töchter und der Sohn leben in einer nahen Stadt im A-Gebiet. Dort sind sie sicherer. Normalerweise kommen sie Burhan mindestens einmal pro Wochen besuchen. In diesem Monat kommen sie nicht. Es ist zu gefährlich.

Burhan möchte sich frei bewegen können. Seine Familie um sich haben. Das verunmöglichen ihm die Siedler. Trotzdem hält er an seinem Land fest. Noch.

Britta, Jordan Valley


[1] https://www.un.org/unispal/document/auto-insert-185434/

[2] https://www.un.org/unispal/document/auto-insert-185434/

[3] https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports/documentdetail/137111468329419171/west-bank-and-gaza-area-c-and-the-future-of-the-palestinian-economy

[4] https://www.btselem.org/topic/area_c

[5] https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2019/01/chapter-3-israeli-settlements-and-international-law/

[6] https://embassies.gov.il/ABUJA/ABOUTISRAEL/Pages/Israeli-Settlements-and-Law.aspx

[7] https://www.timesofisrael.com/cabinet-okays-legalization-of-9-west-bank-outposts-in-response-to-jerusalem-attacks/

[8] https://www.middleeastmonitor.com/20200121-just-3-of-palestinian-building-permits-in-area-c-are-approved-by-israel/

[9] Die Namen der Siedler wurden aus Anonymitätsgründen gekürzt